Der schwatzende Kalendereintrag
Es gibt wenig Genres der Literatur, die sich in einer Weise in die Realität einweben, wie es das Werk tut, mit dem ich mich heute beschäftigen will. Als Kalendereintrag einer Mobility-App ist es ein Stück interaktiver Literatur par excellence und ein präzises Genrestück noch dazu. In flüssiger Prosa beschreibt es, was je nach Perspektive ein Wunsch oder Realität ist. Aber wie so oft, wandelt sich dieser Traum einer Reise beim Übergang von Wunsch zur Realität in einen Alptraum. Beginnen wir mit einem Blick auf den Text, den wir hier – seiner Kürze sei Dank – in Gänze wiedergeben können:
Ihr Fahrtverlauf:
Fahren Sie mit Niederflurbus Bus 1 von Wiesbaden Kurhaus/Theater in Richtung Wiesbaden Dürerplatz nach Wiesbaden Hauptbahnhof.
Ihre Abfahrt von Wiesbaden Kurhaus/Theater ist am 01.04.19 um 11:19, Ihre Ankunft in Wiesbaden Hauptbahnhof ist an Gleis C um 11:26.
Fahren Sie mit RB RB10 von Wiesbaden Hauptbahnhof ab Gleis 7 in Richtung Frankfurt (Main) Hauptbahnhof nach Frankfurt (Main) Hauptbahnhof.
Ihre Abfahrt von Wiesbaden Hauptbahnhof ist um 11:32, Ihre Ankunft in Frankfurt (Main) Hauptbahnhof ist an Gleis 23 um 12:05.
Fahren Sie mit RE RE98 von Frankfurt (Main) Hauptbahnhof ab Gleis 15 in Richtung Kassel Hauptbahnhof nach Friedberg (Hessen) Bahnhof.
Ihre Abfahrt von Frankfurt (Main) Hauptbahnhof ist um 12:21, Ihre Ankunft in Friedberg (Hessen) Bahnhof ist an Gleis 4 um 12:44.
Die Gesamtreisedauer beträgt: 1:25
Die Anzahl Umstiege beträgt: 2
Der Weg den Kaninchenbau hinab beginnt mit dem Moment, da der Protagonist mit dem Niederflurbus 1 am Wiesbadener Hauptbahnhof ankommt. Ist er nur so mässig ortskundig und übermässig zerstreut wie der Autor dieser Zeilen, so erinnert er sich womöglich noch daran, dass ihm nur 6 Minuten zum Umsteigen bleiben, aber nicht, auf welchem Gleis der gewünschte Zug abfährt. Intensives Studium der lieblichen Prosa enthüllen schließlich, dass der Zug an Gleis 7 abfahren soll – in nunmehr nur noch vier Minuten. So eilt der Protagonist durch den geschäftigen Bahnhof zu Gleis 7, wo ihn naturgemäß Zweifel erfassen, ob dies nun auch der richtige Zug ist. Also gilt es die Fahrtziele des Zuges und vielleicht auch die Nummern auf der Anzeigetafel mit der im Fahrtverlauf zu vergleichen. Es bleiben noch dafür noch 1 Minute.
Wieder ist Studium des Textes unabdingbar, bis schließlich die erlösende Passage \“Fahren Sie mit RB RB10 von Wiesbaden Hauptbahnhof ab Gleis 7 in Richtung Frankfurt (Main) Hauptbahnhof\“ gefunden und mit den Informationen auf der Tafel abgeglichen ist. Der Schaffner schaut bereits interessiert auf den lesebeflissenen Protagonisten und macht sich bereit, den Zug abfahren zu lassen.
Der Zug, obwohl er pünktlich und mit dem Protagonisten den Bahnhof verlässt, erarbeitet sich auf der Strecke natürlich eine geringe Verspätung. So werden aus der üppigen geplanten Umstiegszeit von 16 Minuten in Frankfurt tatsächliche 5 Minuten. Dieser Umstand wird dem Protagonisten natürlich bereits im Zug bewusst, und pulst in ihm wie der Countdown zur Selbstzerstörung zum Ende des Reißers \“Alien\“, aber erst auf dem Bahnsteig natürlich erinnert er sich daran, daß er sich nicht mehr an den anzusteuernden Bahnsteig für die weiterführende Verbindung in Frankfurt erinnert.
Es folgt – wie zu erwarten – intensives Textstudium. Intensiver in diesem Fall noch dadurch, dass zum einen der Druck der Verspätung den Herzschlag beschleunigt, und zum anderen die gesucht Stelle noch weiter unten im Text verborgen ist.
\“Fahren Sie mit RE RE98 von Frankfurt (Main) Hauptbahnhof ab Gleis 15 in Richtung Kassel Hauptbahnhof nach Friedberg (Hessen) Bahnhof.\“ lautet sie, und was so sachlich daherkommt, gewinnt in der Situation die fiebrige Intensität eines Textes von Poe oder Lovecraft. Drei Minuten verbleiben noch, acht Bahnsteige sind zu überwinden – ein im äußerst betriebsamen Kopfbahnhof Frankfurt am Main sportliches Unterfangen. Ob der Protagonist nun die rettende Tür des ersehnten Anschlußzuges erreicht oder nicht, soll hier nicht verraten werden. Wir alle hassen ja Spoiler und wie jedes Stück interaktiver Literatur bietet auch dieses natürlich nicht nur ein vom Autor vorherbestimmtes Ende.
Insgesamt haben wir hier ein starkes Stück Literatur vor uns, das nichts für schwache Nerven ist. Wie groß hier die Kunst ist zeigt der Vergleich mit dem Text eines anderen Autors, der sich am selben Stoff versucht hat:
1) Bus 1 (Alle 5 Min.)
-> Dürerplatz, Wiesbaden
Ab 11:19 Kurhaus/Theater, Wiesbaden
An 11:26 Hauptbahnhof, Wiesbaden
2) 5 Min., 108 m, Fußweg
3) VIA RB10
-> Frankfurt(Main)Hbf
Ab 11:32 Wiesbaden Hbf, Gleis 7
An 12:05 Frankfurt(Main)Hbf, Gleis 23
4) RE 98
-> Kassel Hbf
Ab 12:21 Frankfurt(Main)Hbf, Gleis 15
An 12:44 Friedberg(Hess), Gleis 4
Diese Variante mag jener ersten in der sogenannten Usability weit überlegen sein, aber wo ist hier das Drama, wo ist die Möglichkeit des Scheiterns? Ist es nicht erst dann Literatur, wenn sich dem Leser in den Weg stellt und ihn so zum Nachdenken bringt, ob er dieses angestrebte Ziel denn in der Tiefe seines Herzens auch wirklich erreichen will?